Résumé
Leise und unauffällig erscheint Er unter den Menschen, und siehe, es erkennen Ihn alle. Das Volk drängt sich an Ihn heran mit unbezwinglicher Gewalt. Es umgibt Ihn, wächst um Ihn und folgt Ihm. Schweigend schreitet Er unter ihnen, mit dem stillen Lächeln unendlichen Mitleids auf den Lippen. Die Sonne der Liebe brennt in seinem Herzen, Strahlen des Lichtes, der Erleuchtung und Kraft strömen aus seinen Augen und gießen sich über die Menge und wecken die Herzen der Menschen. Er streckt ihnen seine Hand entgegen und segnet sie, und aus der Berührung mit seinem Körper, ja schon aus seinem Gewande fließt heilende Kraft. Ein Greis, der seit der Kindheit blind war, ruft aus der Schar: ›Herr, heile mich, damit ich Dich erkenne!‹ Und siehe, von seinen Augen fällt es wie Schuppen, und der Blinde sieht. In den Augen der Menschen sind Tränen, das Volk küßt die Erde, über die Er hinwandelt, die Kinder werfen Blumen vor seine Schritte, singen Lieder und rufen Hosianna. ›Er ist es, Er,‹ wiederholen alle, ›Er muß es sein und kein anderer.‹ So kommt Er vor das Tor der Kathedrale, wo Menschen unter Heulen und Wehklagen einen weißen offenen Kindersarg tragen, darin ein siebenjähriges Mädchen liegt, die einzige Tochter eines angesehenen Bürgers der Stadt. Das tote Kind liegt da, ganz in Blumen gebettet. ›Er wird dein Kind auferwecken vom Tode‹, rufen Stimmen der weinenden Mutter zu. Aus der Kathedrale tritt dem Sarge ein Priester entgegen, er vermag nicht gleich zu fassen, was hier geschieht, und runzelt die Stirne. Da hört er ein Aufschluchzen: es ist die Mutter des toten Mädchens, sie wirft sich zu seinen Füßen nieder und hebt ihre Hand zu Ihm auf und ruft aus: ›Wenn Du es bist, dann wecke mein Kind vom Tode auf!‹ Die Prozession bleibt stehen, der Sarg wird vor Ihm auf den Boden gelassen. Er sieht auf ihn hernieder voll Rührung, und sein Mund spricht noch einmal: ›Talifa kumi.‹ Und das Mädchen erhebt sich im Sarge, setzt sich auf und blickt im Kreise um sich mit erstaunten offenen Augen. In den Händen hält es das Sträußlein weißer Rosen, mit dem es im Sarge gelegen hat. Das Volk ist bewegt, Stimmen, Schreie, Schluchzen. In diesem Augenblicke geht an der Kathedrale über den Platz der Kardinal vorbei, der Großinquisitor, ein Greis von bald neunzig Jahren, hoch und aufrecht, mit vertrocknetem Gesicht und tiefliegenden Augen, in welchen noch verborgen das Feuer glüht. Heute ist er nicht in den Prunkgewändern, in denen er sich gestern dem Volke gezeigt hatte, da er die Feinde des römischen Glaubens verbrannte - nein, heute trägt er die alte grobe Mönchskutte. Ihm folgen in gemessener Entfernung seine düsteren Gehilfen und Knechte, die ›heiligen‹ Wächter.